Geschichten für Ruth - Rezension

Als ich das Angebot des Zytglogge Verlags zur kostenlosen Übersendung eines Rezensionsexemplars las, habe ich nicht wirklich damit gerechnet, tatsächlich eine Antwort zu erhalten. Als die Bestätigung kam, machte mein Herz vor Dankbarkeit über die Auswahlmöglichkeiten aus dem Angebot des Verlages einen kleinen Hüpfer. Beim Durchstöbern der Seiten zu den Neuerscheinungen blieben meine Augen schnell bei der Beschreibung zu „Geschichten für Ruth“ von Urs Frauchiger hängen.

Ich habe dieses Buch gewählt, weil es Geschichten vom Wandern gepaart mir kulturellen Anekdoten verspricht. Und da ich die Überzeugung teile, dass das Spazierengehen enorme Kreativität freizusetzen vermag, war ich gespannt auf viele Anregungen und Ideen.

In aller Kürze zum Autor Urs Frauchiger (wer mehr wissen will wird schnell im Internet fündig): Der Schweizer ist ein kreativer Geist durch und durch. Mit seinen 85 Jahren hat er sich neben seiner Tätigkeit als Cellist auch dem Autorendasein verschrieben und - so scheint es - sein ganzes Leben der Kunst und Kultur gewidmet. Es ist wunderbar, mit den „Geschichten für Ruth“ ein wenig an seinen klugen und spritzigen Gedankengängen teilhaben zu dürfen. 

Schreibweise

Meine Euphorie nach postalischem Erhalt des Buches wurde zu Beginn des Lesens allerdings zunächst ein wenig gedämpft. Ich bin ein Fan von kurzen Sätzen. Lange, ausschweifende Satzirrungen und -wirrungen finde ich unnötig kompliziert. Frauchiger aber überspannt in den ersten Essays den Bogen meiner Vorliebe, viele seiner Ausrufe bestehen nur aus einem Wort. “Fortissimo!”, “Glücklich!”, “Jubelchöre!”, “Nein!?”. Dadurch wird der Lesefluss stark gestückelt, die Aussagen springen von einem Ort zum anderen und ich konnte anfangs nur schwer folgen. Ich weiß nicht genau, ob Urs Frauchiger selbst in einen angenehmeren Schreibstil findet oder ob ich es bin, die sich dem Stil des Autors anpasst. Nach den ersten beiden Essays jedenfalls wurde es deutlich besser und ich konnte die Geschichten und Ausführungen Frauchiger entspannt genießen.

Die Inhalte, über die Urs Frauchiger schreibt, sind gleichsam unaufgeregt wie faszinierend. Die Themen werden nicht von Anfang bis Ende behandelt, vielmehr gibt es verschiedene Spotlights auf seine kreativen Überlegungen und Gedankengänge. Jedem Essay des Buches wohnt dabei viel Witz und ein Blick fürs Detail inne. Einige Dinge hätte ich fast überlesen, musste kurz innehalten und noch einmal zum vorherigen Satz zurückkehren, um mich anschließend schmunzelnd in meinem Sessel zurücklehnen zu können. „Frühaufstehen ist schön, wenn man nicht muss“ ist so ein Beispiel der in einem Satz komprimierten scharfsinnigen Erkenntnisse.

Frauchiger stellt seine eigene Sicht auf die Dinge dar, ohne über andere Künstler, Musiker, Dichter oder Schauspieler zu urteilen. „Wer eigentlich hat den Literaturkritikern und -wissenschaftern die Lizenz für Verdammungsurteile erteilt?“ fragt er und spielt sich selbst nicht als ein solcher auf, obwohl er bei manchen Werken zum Ausdruck bringt, dass sie ihm nicht gefallen.

„Wenn meine Ausführungen über Widmann eine Winzigkeit dazu beitrügen, dass man im Kunsturteil weniger urteilt und mehr darstellt, wäre ich längst zufrieden.“. So wird bei sämtlichen seiner Berichte deutlich, dass es sich um seine ureigene, persönliche Meinung handelt. Der Leser erfährt viel über Frauchigers Gedanken und erhält kulturelle Einblicke, ohne in seinem eigenen Urteil beeinflusst zu werden.

Wanderungen

Urs Frauchiger beschreibt in einigen Passagen seine Ausflüge in die Natur, Spaziergänge und Wanderungen. Da ich gerade mitten in den Planungen für unsere Italienreise im nächsten Jahr bin, haben mir die Darstellungen zu den Wanderungen durch Italien besonders gut gefallen. Leider ist es gerade in den Italienberichten zuweilen eine etwas allzu eilige Reise durch die Kultur. An vielen Orten hätte ich gerne länger verweilt, mehr über die Landschaft und das Wandern in der Natur erfahren, aber der Autor rauscht zum nächsten Gedankengang. 

Aber das Wandern in der Natur kommt zum Glück an mehreren Stellen im Buch vor, zumeist in der Schweiz, in Bern. „In neuerer Zeit hat man festgestellt und sogar neurologisch untermauert, dass Wandern und Spazieren das Denken viel wirksamer und kreativer freisetzt als das Daheimsitzen und In–sich-hinein–Stieren.“. Welch wunderbares Zitat für meine eigene Überzeugung und den Grund für meine Wahl genau dieses Buches!

Die Essays machen auf jeden Fall Lust auf mehr Spaziergänge in der Natur und erinnern daran, dass es die kleinen Details sind, die zum Nachdenken anregen. Man spürt förmlich zwischen den Zeilen, wie Urs Frauchiger seine kreative Kraft aus der Ruhe der Natur schöpft. In unserem Blog beschäftigen wir uns ja auch gerne mit Möglichkeiten zur Entschleunigung oder der Muße der Achtsamkeit und nach Lesen des Buches habe ich definitiv Lust auf einen weiteren Artikel zu diesem Themenkreis!

„Das erwanderte Ergebnis ist unverwechselbar, oft sogar unvergesslich. Beschauer und Geschautes verschmelzen vollkommen. Der Wanderer weiß, dass er am Ziel als ein Anderer ankommt.“.

Musik

Als Musiker - Frauchiger ist Cellist - lässt er in seine Beschreibungen immer wieder Themen der klassischen Musik einfließen. Auch hier ist mein Interesse geweckt, obwohl ich mit klassischer Musik eigentlich recht wenig anfangen kann. Aber es ist wunderbar, die Leidenschaft für die Musik herauszulesen und ein wenig über die Hintergründe zu dem ein oder andern Künstler oder einem bestimmten Musikstück zu erfahren. Dabei geht er nicht auf Lebensläufe oder Fakten ein - wie er selbst schreibt, ist das alles im Internet nachlesbar. Es ist mal ein Fragment hier, mal eine persönliche Verknüpfung dort.

Wir treffen Tucholsky, Schikaneder, Verdi, Mozart, Widmann, Brahms, Casals und viele andere. Und so ganz nebenbei vermittelt Frauchiger, was es ausmacht, ein herausragender Cello-Spieler zu sein, wie Musik so klingen kann, als ob der Himmel sich öffne und welche Herausforderungen sich klassischen Musikern stellten.

Gedichte

Als weiteres künstlerisches Thema ist das Buch gespickt mit Zitaten aus Gedichten und zuweilen auch eigenen Gedichten von Urs Frauchiger. Für mich ist der Verweis auf die Zeilen verschiedenster Dichter nicht erforderlich. Oft finde ich das gewählte Gedicht nicht wirklich passend, wird der Lesefluss wiederum unterbrochen. Sonderlich gestört haben die kurzen Zitate allerdings auch nicht.

„Ich habe einen Riesenrespekt vor Gedichten. Manchmal brauche ich Monate, wenn nicht Jahre, bis ich meine, jetzt sei eines fertig. Oft, nein, meist lösche ich sie oder werfe sie in den Papierkorb. Vergesse sie, bis sie unversehens wieder auftauchen, wie von Geisterhand, glasklar mit allen Fehlern samt Korrekturen. Oft brüte ich dann eine geschlagene Stunde darüber – und wenn ich auf die Uhr schaue, sind drei Stunden vergangen.“

Der Autor beschreibt, wie er zusammen mit seiner Frau Ruth Gedichte von Sophia de Mello Brenner Andresen ins Deutsche übersetzt hat. Dieser Teil über seine eigene lyrische Arbeit hat mir sehr gut gefallen, auch und vor allem, weil wiederum die Leidenschaft Frauchigers aus den Zeilen herauszulesen ist.

Fazit

Ein Zitat, das Frauchiger zu Josef Victor Widmann verfasst hat, passt wie ich finde bestens auch auf Frauchiger selbst: „Er verfügt über ein imponierend breites kulturelles Wissen, mit dem er spielerisch und gar nicht angeberisch umgeht.“.

Das Buch ist wie ein kreativer Abend mit Véro. Ein kurzer Ausflug in eine bunte, künstlerische Welt, die neue Kraft gibt und dazu anregt, seinen eigenen Horizont zu erweitern, Neues auszuprobieren und verborgene Talente zu entdecken.

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